Verlags- und Imprintgruppe R. G. Fischer
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Doris Dackow


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Beitrag entnommen Anthologie
»Zeilenwende«
Ausgabe 2023







Begegnung 2022


Ellen hastet genervt durch die überfüllte Fußgängerzone. Meine Güte, was ist hier los? Alle sind unterwegs, um in letzter Minute noch irgendwelche Besorgungen zu machen. Sie ist ja schließlich auch dabei … Trubel am Samstag!

Im Urlaub ist sie nun allein, aber sie hat einfach keine Lust, mit ihrem Bruder nebst Familie in die Sonne, ans Meer zu fliegen. Sie würde es sich eben anders gemütlich machen. Mit Tagesausflügen, Treffen mit Freunden, für die man sonst wenig Zeit hat. Sie hat nur drei Stationen und geht oft zu Fuß, aber heute mag sie einfach nicht.
Inzwischen hat sie ihre Bushaltestelle erreicht und bleibt stehen. Gleichgültig schaut sie auf die übrigen Wartenden, kein bekanntes Gesicht dabei.
Plötzlich fällt ihr etwas auf: Eine Frau mit zwei kleinen Mädchen spricht leise, aber sichtlich aufgeregt auf die Kinder ein. Diese schätzt Ellen auf sechs und vier Jahre.
Nun zieht die Frau ein Taschentuch hervor und wischt damit über ihre Augen. Sie weint jetzt und die Mädchen rücken näher, wie eine kleine Schutzmauer. Die Ältere legt einen Arm um die Schulter ihrer kleinen Schwester und die freie Hand auf den Arm der Mutter. Diese kleinen Gesten von Trost und Vertrauen berühren Ellen so sehr, dass sie spontan einen Entschluss fasst. Sie nähert sich der kleinen Gruppe und fragt mit freundlicher Stimme: »Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Ratlos schaut die Mutter die fremde Frau an und weil sie keine Antwort gibt, probiert es Ellen mit Englisch, das klappt besser. Sie suche vergeblich ihre Geldbörse und nun stehe sie hier mit den Kindern und wisse nicht weiter. Schon laufen erneut die Tränen und der Bus biegt gerade in die Straße ein. Keine Zeit für lange Erklärungen. Ellen hat spontan eine Idee und setzt ihr schönstes Lächeln auf.
»Sie kommen jetzt erst mal mit zu mir, trinken einen Tee und dann sehen wir weiter!«
Ungläubig, aber auch misstrauisch starren sie zwei rot verweinte Augen an und sie redet rasend schnell mit der älteren Tochter. Bevor diese reagieren kann, steht der Bus vor ihnen. Türen auf, Türen zu und mit einem leichten Schubser stehen die vier fremden Frauen und Kinder im Gang. »Ich nix Fahrkarte!«, radebrecht die Frau, ihr Englisch vergessend. Ellen lächelt, besorgt die nötigen Karten und nickt den Dreien aufmunternd zu. Während die Kinder aufmerksam umherschauen, ist ihre Mutter völlig überrumpelt und am Ende ihrer Kräfte. Ellen lächelt immer wieder die Mädchen an und die Ältere lächelt erstmals zaghaft zurück. Was mag dieses Kind schon alles erlebt und gesehen haben? Ihr schmales, bleiches Gesicht mit den übergroßen Augen erscheint ernst und entschlossen, während die Kleine mit dem Puppengesicht drollig zu sein scheint. Ellen steigt aus und die drei stolpern hinterher. »Ich heiße Ellen!«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf sich. Die Mutter reagiert prompt, »Ljuba!«, sagt sie und erstmals kommt ein leichtes Lächeln in ihr Gesicht. Sie sieht hübsch aus. Ihre braunen Augen zeugen von Intelligenz und die einfache, zweckmäßige Kleidung zeigt ihre schmale Figur mit dazu passenden schlanken Beinen.
Ellen geht voraus zu einem modernen Appartement-Haus, wo sie eine kleine Wohnung bewohnt. Mit einer einladenden Bewegung zeigt sie auf die geöffnete Wohnungstür und mit großen Augen schauen sich die Mädchen um. Plötzlich hört man einen Laut: irgendwie halb Baby und halb Tier. Die Stimme gehört zu einem recht dicken Kater in Schwarz/Weiß. Mit einem Jubelschrei gehen die Mädchen in die Hocke und kraulen und streicheln den schnurrenden Kater. Ein überaus gutes Zeichen, denn Leo ist sehr wählerisch in Bezug auf fremde Menschen. Aber nun wird die Sache mit dem Geldbeutel wieder akut. Ellen macht den praktischen Vorschlag, die ziemlich vollgestopfte Einkaufstasche ganz zu leeren, um sicher zu gehen, dass die Börse sich da wirklich nicht versteckt hat. Gesagt, getan. Bald stapeln sich Milchtüten, Obst, Brot und viele andere Dinge auf dem Tisch. Jetzt ist die Spannung mächtig – mit einem Jubelschrei zieht die Frau die vermisste rote Börse ganz unten aus den Falten des Taschenfutters und küsst sie erleichtert. Alle müssen lachen!
Man spürt fast körperlich, wie die drei sich entspannen. Ellen kocht einen duftenden Tee¸ für die Mädchen einen leckeren Kakao und dazu gibt es eine Schale mit Gebäck.
Frieden und lachende Kinder sind jetzt einfach das Richtige. Sie möchte nicht neugierig oder aufdringlich erscheinen und stellt deshalb keine Fragen. Aber Ljuba fängt von selbst an zu erzählen.
Der Rest der Familie ist noch im Kriegsgebiet der Ukraine und ihr Mann ist in den kämpfenden Reihen dabei und ihre Angst ist grenzenlos. Durch Stromausfall hat sie momentan keinen Kontakt und sie weint lautlos vor sich hin. Ellen nimmt sie liebevoll in den Arm und diese leidende Frau lässt es zu. Ihre Tränen versiegen und sie schafft sogar ein schwaches Lächeln und sagt »Danke!«
Ellen ist sehr bewegt und sie ist froh, dass sie an der Haltestelle so spontan gehandelt hat. Insgeheim überlegt sie bereits, was sie alles für die drei regeln könnte.
Doch dann schaut sie in das erschrockene Gesicht der Ukrainerin, es ist dunkel draußen. Ljuba schaut sehr erschrocken, denn die Unterkünfte für die Flüchtlinge werden pünktlich geschlossen. Ellen kann sie beruhigen, weil es noch nicht so spät ist und bietet an, dass die drei zum Abendessen bleiben. Verlegen stimmt die Mutter zu und die Mädchen freuen sich darüber. Wenig später sitzen sie um den runden Tisch und lassen sich Rührei mit Schinken und Tomatensalat schmecken. Die Mädchen plappern und Ljuba übersetzt: Das Essen sei so lecker und Leo ja sooo lieb und überhaupt. Sie haben rote Bäckchen, die Kinderaugen zeigen Glanz.
Die kleine Diana zeigt keinerlei Scheu vor Ellen. Ihre dunklen Locken hat sie wohl von Mama geerbt, während die Ältere mehr blond erscheint. Vom Vater? Beide sind sauber gekleidet, nicht nach der neuesten Mode, aber sie sehen sehr gepflegt aus, was unter den jetzigen Umständen bestimmt nicht einfach ist.
Nur ihre Mutter scheint mit einem Problem zu kämpfen. »Sie sind ein guter Mensch, wie kann ich danken?« Als Ellen strikt ablehnt, geht ein zufriedenes, strahlendes Lächeln über das Gesicht der Ukrainerin und sie nestelt mit beiden Händen an ihrem Hals bis eine Kette mit einem kleinen Kreuz zu sehen ist. Ellen will sofort protestieren, aber ein scharfer Blick von ihrem Gegenüber lässt sie verstummen. Sie ist so gerührt und hat keine Worte für diesen ganz besonderen Moment. Die beiden Frauen reichen sich die Hände, schauen sich in die Augen und lesen darin die schöne Botschaft, dass hier wohl eine wunderbare Freundschaft entsteht.

Weit entfernt von Unheil, Krieg und Flucht.




Augenstern

Du stehst mitten im Leben,
willst nach höherem streben.
Alles ist möglich, wenn man nur will,
selten steht dein Handy still.

Familie, Kinder, schöne Frau,
du verfolgst dein Ziel genau.
Die Chefetage war einst fern
und deine Frau war Augenstern.
Allein für sie wolltest du leben
und im siebten Himmel schweben.

Doch diese Zeit ist lange her,
Augenstern sagst du nicht mehr.
Dein Blick ist weit nach vorn gerichtet,
wo du den Aufsichtsrat schon sichtest.
Seelenlos und ohne Scham
legst du dann Arbeitsplätze lahm.

Hire and fire heißt die Devise,
schließlich macht die Firma Miese.
Menschen sind dir völlig schnuppe
selbst die weinende Frauengruppe.

Doch eines Tages voller Schmerz
stolpern Pulsschlag und das Herz.
Große Angst dich überfällt,
DICH – den Manager von Welt.
Erst auf der Liege, blass und klein,
fällt Augenstern dir wieder ein.
Dein schwacher Ruf bleibt ungehört
und deinen Notarzt nicht mal stört.

Von Augenstern ist nichts zu sehen,
so wolltest du nicht von ihr gehen.
Tränen benetzen dein Gesicht,
all' so was wolltest du doch nicht.
Die Tür geht auf und sie steht da,
dein Augenstern – wie wunderbar.
Du hebst die Hand und bist bereit
für eine neue, bessere Zeit.

 

Stille

Vielfältig kommt sie daher,
unterschiedlich wird sie empfangen.
Verschieden wird sie empfunden.
Stille trägt sich allein,
aber nicht jeder kann sie ertragen.

In ihr findet man Kraft,
aber auch angstvolles Lauschen.
Sie kann behutsam einhüllen
oder dich lautlos anbrüllen.

Nur in der Stille erfährt unsere Seele
jene besondere Wahrheit,
die tief in uns verborgen ist.
In der Ruhe allein liegt Erkenntnis
und wer mag, der kann sogar
die Stille hören.

Still zuhören,
Stille zulassen.
Still sein in der Stille.








Doris Dackow schreibt seit vielen Jahren Geschichten und Gedichte für Zeitungen, Zeitschriften sowie Anthologien und hat im R. G. Fischer Verlag bereits einige eigene Bücher veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie in Bad Krozingen/Südbaden.