Wolfgang R. Strauß

Der kleine Fritz

 

 

Er schaute aus dem Fenster. Grau und wolkenverhangen war es. Die Bäume, mit Ausnahme der Nadelgehölze, zeigten sich kahl.
Sein Blick konzentrierte sich auf einen Baum, der über einen kräftigen Stamm mit vielen Ästen und eine große Anzahl von Zweigen verfügte.
»Wie ein Stammbaum sieht er aus, so nackt wie er jetzt ist. Im Frühjahr bekommt er wieder Blätter. Da sprießt erneut das Grün.
Eine neue Frische. Wie neue Gedanken«, dachte er.
Seine Gedanken aber fingen an, im Wechsel mal in der Vergangenheit, dann in der Gegenwart und anschließend in einer fragwürdigen Zukunft zu sein.
In der Erinnerung hörte er ältere Menschen und Lehrkräfte sprechen, sah Bilder aus Nachrichtensendungen und alten Wochenschauen, die in seinem Gedächtnis gespeichert waren; auch blätterte er in alten Zeitungen und Zeitschriften. Dann verweilte er wieder kurz im heute.
Er schüttelte den Kopf und wurde traurig. Was war er damals ­entsetzt gewesen, als er von der im Grunde unbegreiflichen kriegerischen Gewalt hörte und las, als er Bilder von Gräueltaten sah, die ihn über alle Maße erschütterten.
Er war so dankbar gewesen, und ist es noch heute, dass er das nicht erleben musste und nach wie vor nicht erlebt.
Aber dann zeigten ihm seine Gedanken Bilder und Worte der Gegenwart, die ihm die inzwischen so umfangreich gewordene und technisch so fortgeschrittene Medienlandschaft tagtäglich übermittelt. Ihn fröstelte.
»Die Anzahl der Menschen hat sich im letzten halben Jahrhundert mehr als verdoppelt. Das kann zu großen Problemen führen, die gelöst werden müssen. Hetze und Hass sind nicht nur geblieben, sie nehmen auch durch die neuen Medien weiter zu.
Die Umwelt wird nach wie vor ausgebeutet und verschmutzt.
Die Menschen in den Machtpositionen sind in viel zu vielen Fällen immer noch, verdeckt oder offen, Autokraten. Wie soll das enden?«, fragte er sich und seufzte. »Ja, frische, neue Gedanken gab es schon, aber sie wurden zu oft, wie im Herbst die Blätter durch den Wind, durch machtpolitisches Kalkül weggefegt.«

Leicht, ganz leicht, wie von besonderer Sanftmut bewegt, legten sich inzwischen Schneeflocken auf die Äste und Zweige des Baumes. Das Dunkelgrau wurde von schimmerndem Weiß überdeckt.
Kurz verließen ihn die ernsten Gedanken. Es war, als würden sie durch die zarte Pracht zur Ruhe kommen.
Der Ausdruck seines Gesichtes entspannte sich. Er lächelte, während er die langsam auf das Geäst und zur Erde trudelnden Flocken, die abwechselnd wie kleine, weiche Federn oder wie kleine, weiß strahlende Sterne wirkten, betrachtete.

Er entschloss sich, einen Spaziergang zu machen.
Nach ersten, wenigen Schritten sah er einen Nachbarjungen. Es war der kleine Fritz. Allerdings, so klein war dieser nicht mehr, denn immerhin ging er schon zur Schule. Aber er war bekannt als der kleine Fritz, weil sein Vater auch Fritz hieß und somit der große Fritz war.
Der junge Schüler hatte etwas in den Schnee geschrieben. Grau auf weiß und klar war das Wort »Lincoln« zu lesen.
»Warum hast du denn diesen Namen geschrieben?«, sprach er den kleinen Fritz an.
»Weil er was richtiges gesagt hatte«, antwortete der Junge.
»Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht«, sprach der kleine Fritz und fuhr fort »Ja, das hat Herr ­Lincoln vor langer Zeit gesagt.«
»Es stimmt, das soll Abraham Lincoln gesagt haben. Diese Aussage trägt in sich eine Wahrheit, die wirklich immer wieder neu ­bestätigt wird«, sagte er und strich dem Jungen über den Kopf.
»Wenn die, die die Macht haben, einen guten Charakter hätten, so würde es die Kriege, Folter und politische Morde doch gar nicht geben. Wenn sie einen guten Charakter hätten, ja, dann könnten die Probleme dieser Welt, unserer Erde, doch gelöst werden, oder?«, fragte der Junge und sprach weiter.
»Ich bin der Meinung, dass ein viel, viel zu großer Teil der Menschen, die Macht haben und daher positives für uns alle bewirken könnten, einen wirklich schlechten, manchmal gar einen furchtbaren Charakter haben.«
Der kleine Fritz war mit seiner Meinungsäußerung noch nicht fertig.
»Leider werden diese Politiker, die man wohl Autokraten nennt, von Leuten unterstützt, die auch einen schlechten Charakter haben. Nein, nicht alle, denn manche wollen einfach nur den Versprechungen glauben. Aber ein Teil freut sich darüber, wenn er unterdrücken und schlimm prügeln kann.«
»Du meinst, dass die sich freuen, wenn sie Gewalt ausüben können«, entgegnete er und schaute den Jungen freundlich aber auch nachdenklich an. Dieser hatte aber noch etwas zu sagen.
»Die machtbesessenen Autokraten und ihr Gefolge dürfen keine Macht mehr haben. Sie lösen die Probleme nicht, sondern verschlimmern sie nur. Es muss nachgedacht werden, wie diese Menschen eines Besseren belehrt werden können. Vielleicht sollten sie in einen Schlaf fallen, aus dem sie dann geläutert wieder aufwachen. Das wäre schön. Es muss ja nicht gleich ein hundertjähriger Schlaf wie im Märchen von Dornröschen sein.«
Der Junge lächelte und schaute zu ihm auf.
Beide hörten sie jemanden rufen. »Fritz, kleiner Fritz, wir warten auf dich.« Es war die Mutter.
Der Junge verabschiedete sich »Tschüs, und vielen Dank.«
»Wofür?«
»Dafür, dass ich ernsthaft mit Ihnen sprechen konnte.« Im Laufen drehte sich der kleine Fritz noch einmal um und rief »Wenn es ginge, würde ich eines Tages Mitglied einer Weltregierung werden«.
»Ja, lieber Junge, das ist ein schöner Traum«, dachte er und schmunzelte.
Es schneite nicht mehr. Liegenbleiben konnte die weiße Pracht nicht, denn dafür war es nicht kalt genug.
Die Buchstaben des Namens liefen auftauend ineinander über und waren bestenfalls noch zu erraten.
Auf den Ästen und Zweigen lagen noch Reste des weißen, vieles so schön überdeckenden Zaubers.

»Was wird wohl die Zukunft bringen?«, seufzte er und schaute ­fragend zum Himmel. Der sah nicht so aus, als ob es bald wieder schneien würde.