Kerstin Werner

Die verlockende Frucht

 

 

Auch heute, an diesem warmen Spätsommertag, zieht es uns hinaus in die Natur. Wie so oft laufen wir durch den wilden Park und suchen Schutz unter den knorrigen Eichen, die uns so vertraut sind wie alte Freunde. Sorglos hüpfst du neben mir her, in kurzer Hose und mit zerschrammten Knien, und ich halte deine kleine Hand in der meinen. Deine blonden Haare glänzen in der Sonne, und immer, wenn du davonrennst und wieder zu mir zurückkehrst, legen sie sich sachte auf deinen Kopf, als hätte der Wind sie dir glattgekämmt. Doch jetzt läufst du voraus, deine Beine wirbeln wie kleine Propeller in der Luft und ich rufe dir zu: „Samuel, warte doch, ich kann nicht so schnell laufen!“ Du drehst dich um und lachst mir zu, während die Tüte mit den Getreideflocken in deiner Hand hin und her schaukelt, die du für die Enten mitgenommen hast. „Ich warte am Teich auf dich, Mama!“
Dort stehst du nun, am Rande des Ufers, umringt von einer Schar Enten, die schnatternd auf dich zukommen und ihre Schnäbel recken, während du ihnen die Getreideflocken zuwirfst.
Was würde Jan wohl sagen, wenn er dich so sehen könnte?, denke ich. Vier Jahre ist es nun schon her, als ich ihm sagte, dass ich schwanger bin. Er wollte von einem Kind nichts wissen. Die Begegnung mit mir sei für ihn etwas Besonderes gewesen, doch er könne sich ein gemeinsames Leben mit einem Kind nicht vorstellen. Ich liebte Jan und versuchte ihn zu verstehen. Doch dann habe ich jeglichen Kontakt abgebrochen, nur so konnte ich den Schmerz überwinden. Jan lebt für seine Theaterbühne und hat dich nie kennengelernt.
Doch wie schön wäre es, wenn auch du einen Vater hättest, denke ich, so wie andere Kinder in deinem Alter. Auch ich möchte nicht mehr allein sein. Doch welcher Mann würde eine Frau mit einem Kind interessant und begehrenswert finden?
„Mama!“, höre ich dich rufen. „Sie haben immer noch Hunger.“ Ich schaue dir zu, wie geduldig du den Enten erklärst, dass du leider kein Futter mehr hast, aber sie schnattern aufgeregt weiter. Du reichst mir die leere Tüte, dann läufst du den Pfad entlang, der uns zur großen Wiese führt, wo die Obstbäume schon auf dich warten. Ich eile dir nach, verdränge die quälenden Gedanken und nehme den vertrauten Duft des Spätsommers wahr. Kinder spielen im Gras, verstecken sich hinter Sträuchern und Bäumen, während Mütter und Väter auf ihren Decken sitzen und dem bunten Treiben zuschauen.
Endlich gelangen wir auf unseren Hügel, auf dem der Apfelbaum steht. Mit einer zärtlichen Umarmung begrüßt du ihn, deinen besten Freund unter all den anderen. Und als du zu ihm hinaufschaust, entdeckst du hoch oben einen Apfel, größer als all die anderen, rotbäckig und für dich unerreichbar, aber du willst ihn unbedingt haben. „Darf ich hinaufklettern und ihn abpflücken?“, fragst du mich, und ohne eine Antwort abzuwarten, versuchst du dich hinaufzuziehen. Im Klettern bist du sehr geschickt, dennoch habe ich Angst um dich. Unsicher schaue ich mich um und da bemerke ich, dass wir von einem Mann beobachtet werden, der mit einem Buch in der Hand nicht weit von uns auf der Wiese sitzt und unauffällig seinen Blick zu uns hinüberwandern lässt.
Schnell schaue ich wieder zu dir hinauf und staune, wie weit oben du bereits zwischen den Zweigen hockst. Doch dann richten sich deine Augen zu mir nach unten – und in diesem Augenblick wird dein Gesicht ganz blass und die Angst überwältigt dich. Du sitzt im Baum fest, wagst nicht höher zu klettern, aber du weißt auch nicht, wie du wieder herunterkommen sollst. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben und rufe dir zu: „Komm ganz langsam wieder nach unten, ich stehe hier und kann dich halten!“ Dein Körper zittert und verzweifelt bringst du heraus: „Ich kann nicht, Mama!“
Der Mann, der uns beobachtet hat, legt sein Buch ins Gras, steht auf und kommt zu uns auf den Hügel hinauf, und ohne lange zu überlegen, schwingt er sich auf den Baum, greift deinen Arm und gibt dir genaue Anweisungen. Du gewinnst sofort Vertrauen zu ihm und wie vom Zauber erlöst, schwindet die Erstarrung aus deinen Armen und Beinen. Schon bald berühren deine Füße den sicheren Boden. Doch der rotbäckige Apfel hängt noch immer hoch oben im Baum.
„Wolltest du ihn pflücken?“, fragt er dich.
Du nickst und schaust den Mann erwartungsvoll an.
Er lächelt dir zu, und für einen kurzen Moment sucht er auch meinen Blick. Dann klettert er auf den Baum, pflückt dir den Apfel und überreicht dir die köstliche Frucht. Dein Gesicht fängt an zu strahlen. Liebevoll hältst du den Apfel in deinen Händen. Und leise, ganz leise sagst du: „Danke.“
„Gern geschehen“, sagt der Mann und streicht dir über den Kopf. „Ich heiße übrigens Clemens. Und wer bist du, kleiner Freund?“
„Ich bin Samuel.“
„Na dann, lass es dir schmecken, Samuel!“
Verlegen schaut Clemens mich an. „Sind Sie oft hier?“
„Ja, fast jeden Tag“, sage ich und spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt.
„Ich habe erst kürzlich den Park für mich entdeckt“, sagt er, „und lese seitdem lieber hier draußen als in meiner Wohnung.“
„Es ist wunderschön hier. Vielleicht sehen wir uns morgen wieder“, sage ich und bin erstaunt, wie leicht mir diese Worte über die Lippen gehen.
„Ja, das würde mich sehr freuen“, sagt er.
Dabei kennen wir uns kaum, aber auf unerklärliche Weise fühle ich mich zu ihm hingezogen. Sein natürliches und spontanes Auftreten, seine leuchtenden Augen und sein ehrlicher, direkter Blick berühren mich zutiefst. Noch nie habe ich erlebt, dass ein Mann so liebevoll und geduldig mit dir umgeht.
Später, als du wieder mit mir allein bist, beißt du genüsslich in deinen Apfel. Er schmeckt dir so gut, dass du ihn noch immer mit beiden Händen festhältst und deinen Blick nicht von ihm abwendest, bis du den Apfel aufgegessen hast. Dann erst schaust du über die Wiese zu Clemens hinüber und winkst ihm zu. Dein großer Freund winkt dir zurück.
Auf unserem Heimweg hüpfst du munter neben mir her, und auch ich fühle mich so froh und leicht, als schwebe ich über der Erde. Schon jetzt kann ich den morgigen Tag kaum erwarten.