Hannelore Baethge

„Fundraising“

 

 

Johanna saß grübelnd vor dem Bescheid aus dem Ministerium, der für den nächsten Zuschuss eine drastische Kürzung ankündigte. Das war ein harter Schlag für das Bildungshaus, in dem Johanna seit einigen Jahren die Leitung übernommen hatte. Der Hinweis, dass es den gesamten sozialen Bereich treffen würde, war für sie auch kein Trost.

„Fundraising“ hieß das Zauberwort, das bereits seit einiger Zeit durch ihren Kopf ging: „Schätze heben“ bei Personen und Institutionen, um die drohenden Lücken im Haushalt zu stopfen. Um die Sache professionell und erfolgversprechend anzugehen, wurden Fortbildungen angeboten. Johanna meldete sich mutig an.

 

Sie kam vom Lehrgang zurück mit dem Eindruck, nicht sehr viel klüger geworden zu sein. Aber das lag wohl in erster Linie an ihrer Scheu, als Bittstellerin aufzutreten. Eine Idee wollte sie jedoch gleich umsetzen: sie machte eine Liste von den Menschen und Gruppen, die bereits ein- oder mehrmals „ihre“ Bildungseinrichtung unterstützt und finanziell gefördert hatten. Sie musste es nur schaffen, in einem Schreiben auf die drohenden Folgen der finanziellen Engpässe aufmerksam zu machen, und überzeugend, aber unaufdringlich die Notwendigkeit von Spenden zu übermitteln – gegen Spendenquittung selbstverständlich. Johanna saß lange an diesem Brief.

In ihrer Liste tauchte der Name eines Mannes auf, der Johanna schon einmal mit einer „Gabe“ sehr überrascht hatte: Er war zu einer Vernissage ins Bildungshaus gekommen, als dort Bilder einer Überlebenden aus dem Konzentrationslager Theresienstadt ausgestellt waren – Kinderzeichnungen. Der Vater des kleinen Mädchens hatte die Blätter damals versteckt und somit gerettet. Die inzwischen hochbetagte „Künstlerin“ war eigens aus Tschechien zur Ausstellungseröffnung angereist. Da stand plötzlich ein Mann neben Johanna und zog aus seiner Hosentasche zwei Hundertmarkscheine heraus. Er drückte sie ihr in die Hand mit den Worten: „Sie haben bestimmt viele Kosten mit dieser Ausstellung und die Reise der Künstlerin müssen Sie doch auch bezahlen – nehmen Sie das dazu.“ Johanna war völlig überrascht und bedankte sich. Der ältere Herr sah freundlich und gepflegt aus, ansonsten erinnerte sie sich lediglich an eine auffällige Narbe auf seiner rechten Wange.

Bei ihm wollte sie nun ihr Fundraising-Glück versuchen. Sie ermittelte seine Anschrift – eine Telefonnummer gab es nicht – und schickte ihm ihren sorgsam formulierten Bittbrief. Kurz darauf rief er aus einer Telefonzelle an und erklärte seine Bereitschaft für eine Spende. Weil aber niemand etwas von dieser Spende erfahren sollte, wollte er kein Geld überweisen. Er bat Johanna, das Geld persönlich bei ihm in der Wohnung abzuholen. Sie vereinbarten einen Termin. Johanna war gar nicht wohl bei der Sache, sie fürchtete einen Flop. Im Büro gab sie deshalb nur an, einen „geschäftlichen Besuch“ machen zu wollen, und fuhr los.

Der Mann wohnte in einem renommierten Stadtteil und erwartete Johanna freundlich an der Haustür – sorgfältig gekleidet, in weißem Hemd und schwarzer Hose. Mit einem wachsamen Blick konnte Johanna noch erkennen, dass im Erdgeschoss eine andere Familie wohnte. Dann ging der Mann voraus, die Treppe hoch zum ersten Stock in seine Wohnung. Johannas Herz klopfte immer heftiger. Noch konnte sie umkehren, aber …

Der Mann führte Johanna durch seine große, spärlich möblierte Wohnung. Er lebte allein, seit seine Frau vor etlichen Jahren verstorben war. Er erzählte, dass seine beiden erwachsenen Söhne selten vorbeikämen – und dann auch nur, um kritisch die Ausgaben des Vaters zu kontrollieren. „Sie fürchten wohl, dass für sie zu wenig übrigbleibt“, fügte er hinzu und erklärte damit auch die eigenartige Spendenübergabe.

Der Mann führte Johanna durch alle Räume: Die Küche mit Duschecke, Vorratsraum, Esszimmer – dann: „Möchten Sie auch das Schlafzimmer sehen?“ Johannas Herz sank in die Knie. Der Mann öffnete die Tür und sie konnte sein ordentlich gemachtes Bett erkennen. Sie trat nicht ein. Dann gingen beide ins Wohnzimmer. Es gab dort keinerlei Möbel, nur einige Regale, die an den Wänden festgemacht und mit Büchern bestückt waren. Mitten in diesem leeren Raum waren zwei Holzstühle einander gegenüber aufgestellt. Dort ließen sich die beiden nieder.

An das Gespräch konnte sich Johanna später kaum erinnern – ihre Gedanken bewegten sich zunehmend in Richtung „Flucht“. Dann stand der Mann auf und holte aus einem Regal ein kleines, silbernes Tablett. Darauf lag ein weißer Umschlag – zugeklebt. Er überreichte ihn Johanna feierlich mit den Worten: „Und das wollte ich Ihnen noch geben.“

Das war das ersehnte Signal zum Aufbruch – Johanna erhob sich, dankte für die noch im Umschlag verborgene Gabe und steuerte zielgerichtet auf den Ausgang der Wohnung zu. Der Mann kam hinter ihr her und begleitete sie noch nach unten bis zur Haustür, winkte freundlich zum Abschied – und Johanna ließ sich zitternd auf den Autositz fallen.

Sie fuhr in eine kleine Nebenstraße und atmete erst einmal tief durch, um sich zu beruhigen. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen!? Das war so blauäugig und unprofessionell, das hätte ja böse enden können ...! Dann öffnete sie den Umschlag. Dreitausend Mark in sauberen Scheinen zählte sie. Eine unerwartet große Summe.

Langsam fuhr Johanna zurück zu ihrer Arbeitsstelle und gab im Büro ohne viel Worte die Spende ab. Das Herzklopfen sollte niemand bemerken.

Dann hat sie im Stillen den großzügigen Mann um Verzeihung gebeten. Sein Verhalten war sicherlich ungewöhnlich und auch sehr irritierend, es gab dennoch keine einzige Situation, die wirklich bedrohlich gewesen wäre. Er hatte es nur gut mit ihr und ihrem Anliegen gemeint.

Von weiteren Versuchen von „Fundraising“ hat Johanna dann vorerst jedoch abgesehen.