Anne Jutta Böbel

 

Loses Ende

 

 

Es ist Freitag mitten im Mai. In der Rosenallee ist Mittagsruhe eingekehrt. Fenster und Balkontüren sind weit geöffnet und die Sonnenmarkisen ausgefahren. Das Klappern von Geschirr verhallt auf der verwaisten Straße. Noch stehen die Gartenstühle leer. Der große Zeiger der Kirchenuhr schiebt sich auf kurz vor eins. Unter einem blühenden Kirschbaumzweig steht Strobl. Er steht da schon eine ganze Weile und blinzelt, den Kopf in den Nacken gelegt, in den wolkenlosen Himmel. Sein Blick ist durch das weiche Blau hindurchgesunken und hat sich darin aufgelöst. Dabei hat Strobl keine Zeit. Er hat noch einen Termin, muss noch einen Kunden besuchen. Dieser wohnt in dem kleinen Häuschen dort, das sich in die Biegung der Straße schmiegt, nur wenige Schritte von ihm entfernt.

Aufkeimende Unruhe lässt ihn um sich blicken. Die schlichte weiße Haustür seines Kunden taucht vor ihm auf. Sie erscheint ihm in weite Ferne gerückt, verschoben an den Fluchtpunkt einer anderen Welt, zu der er keinen Zugang findet.

Langsam geht Strobl den Bürgersteig entlang. Am Eingang angekommen drückt er die Klingel. 

Die Tür öffnet sich.

»Ja, bitte?«

»Herr Lose?«

Die Gestalt im Türspalt nickt. Sie ist schmächtig wie jemand, der in kurzer Zeit viel Gewicht verloren hat. Der braune Ledergürtel hält die zu weite Hose und den Mann zusammen. Das fahle Gesicht blickt fragend in das Tageslicht.

»Gerichtvollzieher Strobl. Ich bin hier, um Ihre Geldstrafe zu vollstrecken. Die Staatsanwaltschaft hat mich mit der Pfändung beauftragt. Kann ich reinkommen?«

Lose reckt den Hals und späht die Straße hinunter. Geschrei aus dem Gymnasium einen Block weiter weht herüber. Die Schule ist aus. Aber die liegt auf der anderen Seite.

»Nun?«

»Wegen welcher Angelegenheit noch gleich?«, fragt Lose von weit her.

»Sie haben Ihre Geldstrafe wegen Trunkenheit im Straßenverkehr nicht bezahlt.«

»Ach, jaa. Sicher, sicher.«

Loses Augen wandern um den Gerichtsvollzieher herum, als ob sie die klammen Wände eines Gefängnisses abtasten. Sie sind groß und wölben sich ein wenig zu weit aus ihren Höhlen. An ihren Schimmer perlt der Gerichtsvollzieher ab wie Wassertropfen an einer Fensterscheibe. Strobl deutet auf die Tür.

»Darf ich?«, und schreitet hinüber.

»Sicher, sicher.«

Lose tritt beiseite. Das Türschloss schnappt zu. Die Kirchenuhr schlägt noch Viertel nach eins. Gong.

Der dunkle Hausflur mündet in einen lichtdurchflutenden Wohnraum. Sie setzen sich auf ein cremefarbenes Ecksofa, ein jeder auf eine Seite. So muss keiner den anderen ansehen. Lose hat die Hände im Schoß gefaltet. Beide Füße ruhen auf dem Holzfußboden. Strobl kann diesen Anblick nicht ertragen. Er widmet sich dem Vollstreckungsauftrag auf seinen Knien und kritzelt auf das zerknitterte Papier mit einem Kugelschreiber seine Vergütung. Gebühren und Auslagen.

Lose versucht von der anderen Seite ein Gespräch: »Wissen Sie, das Haus gehört meinen Elt…«

»Haben Sie Bargeld?«, unterbricht ihn Strobl und schaut von seinen Berechnungen hoch.

»Zwanzig Euro?« Strobl winkt ab. Pfändungsschutz.

»Sie sehen ja selbst. Hier gibt es nicht viel. Was soll man machen?« Das Schulterzucken, eine ratlose Geste in Richtung Strobl. »Früher, da war ich Informa…«

Strobl steht auf und schaut sich in dem Raum um. Ein großer Holztisch. Ein zugeklappter Laptop. Vier Stühle. Ein Wandregal. Eine Tabakdose. Ein Fernseher.

»… angestellt mit BMW und alles. Dann kam der Alkohol …«

Geschirr in der Küche. Eine graue Langhaarkatze im Garten. Wertlos, da: Pfändungsschutz.

»… neunhundert Euro Unterstützung …«

Ein kleines schwarzes Keyboard in der Ecke. Ein paar alte Bücher. DVDs. Die Couch. Wertlos, da: Gebraucht.

»… bin auch dankbar …«

Der Mann, da: Wertlos.

»… letzte Woche dann das Finanzamt …«

Strobl deutet auf eine Treppe, die in die obere Etage führt: »Ich geh da mal hoch.«

»Bitte. Bitte.«

Oben hinter der Treppe befindet sich ein offener Raum, ein Arbeitszimmer, in dem eine Frau vor einem Computer sitzt. Ein flüchtiges Nicken zur Seite. Finanzamt, Staatsanwaltschaft, Vollstreckungsbeauftragte. Kennt man schon.

Dahinter liegt das Schlafzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen. Im Halbdunklen verkrümelt sich das aufgewühlte Bettzeug vor dem Blick der Öffentlichkeit. Auf dem grauen Teppichboden ein kleines Kleiderhäufchen. Das Badezimmer, nur ein Blick. Aber hier: Ein kleiner Schrank, fast schon ein Tresor! Strobl ruft und Lose schließt auf. Im Innern befindet sich ein leeres Etui, dessen blau-samtenes Futteral ehemals Münzen bargen.

»Das Finanzamt«, denkt Strobl und sagt: »Das wär’s dann.«

Er eilt die Stufen hinunter. Hinter ihm will Lose noch irgendwas. Ob die Polizei jetzt käme. Ob er jetzt in Haft müsse. Ob er sich vorbereiten müsse. Ersatzfreiheitsstrafe. Er habe von so etwas gehört. Der Gerichtsvollzieher ist mit einem Bein schon über der Türschwelle. Er weiß: Erst Ladung, dann freiwilliger Strafantritt. Wegen Corona wird sowieso nicht vollstreckt. Kein Platz in der JVA.

»Kann schon sein«, sagt er laut.

Die Türe fällt mit einem Knall zu. Strobl geht zurück zu seinem Wagen, der unter einem blassrosaweißen Bett liegt. Das Lied eines Windspiels verklingt in der Stille zwischen den Häuserreihen. Essensgerüche liegen in der Luft. Jemand hat seinen Grill angeschmissen. Ein paar Kinder sausen plötzlich auf Inlineskatern an ihm vorbei. Einer schalen Sehnsucht folgend starrt Strobl nach oben. Doch er findet nichts. Er setzt sich in sein Auto und startet den Motor. Morgen ist Samstag. Übermorgen Sonntag. Jetzt hat er Feierabend. Aber ein Ende gibt es nicht.