Matthias Kröger

Der Sprung

 

Wenn andere Menschen arbeiten, gehe ich schwimmen. Oder ging. Früher. Heute lasse ich meinen trägen Körper von den warmen Strahlen der Sonne massieren. Vertreibe mir die Zeit mit Nichtstun. Und bin zufrieden. Mein Reich ist das Freizeitbad in Castrop-Rauxel. Dort bin ich König. Ungekrönt zwar, aber auch unangefochten. Niemand würde auf die Idee kommen, eine Palastrevolution anzuzetteln. Keiner hat je aufbegehrt und wollte mich stürzen. Alle kennen und respektieren mich hier. Und niemand weiß, wie man die Guillotine bedient.

Sie halten meinen Platz frei, direkt neben dem Baum auf dem kleinen Hügel. Mein Thron. Von hier hat man den besten Blick, kann jeden sehen und gesehen werden. Sie blicken ehrfürchtig zu mir herauf und manchmal grüße ich sie. Selten allerdings, denn sie sind der Pöbel. Der König bin ich. Das Wasser meide ich mittlerweile, denn es ist dreckig. Sie schütten Chlor hinein. Unmengen von Chlor, das weiß ich, aber sie können es nicht säubern. Zu viel niederes Volk tummelt sich darin und hinterlässt den schalen Geruch der Angepasstheit. Ich habe Angst hineinzuspringen und danach mit Anzug, Krawatte und Bürostuhl wieder herauszusteigen. Ich bleibe am Rand. Immer festen Boden unter den Füßen. Blau-weiße Fliesen. Mein Laufsteg.

Die Mode hat sich verändert. Enorm. In den Fünfzigern trugen die Damen einteilige Badeanzüge, die weniger Haut sehen als vermuten ließen. Dann kamen die sexuelle Befreiung und die wilden Siebziger. Natürlich durfte man hier nicht nackt baden, aber fast keiner hat sich daran gehalten. Die Zeit war paradiesisch. Sie waren Adam und Eva und ich Gott, der aufpasste, dass niemand in den verbotenen Apfel biss. Mit den Achtzigern schwand das Paradies und aus ungezähmten Haaren wurden toupierte Gebilde, die sich Frisuren nannten. Schwarze Sonnenbrillen sogar im Wasser, riesige Schulterpolster ersetzten gestählte Körper. Sie himmelten Götter an, die sich Crokett und Tubbs nannten und jedem Sinn trotzen. Bunt und schräg regierte die Welt und verschaffte der Spießigkeit einen Unterschlupf. Die Neunziger waren aufregend und eröffneten mir ein Publikum, das den weiten Weg der Transitstraßen auf sich nahm, um eine neue Freiheit zu genießen, die sie so auch gehabt haben. Wir gaben uns liberal und patriotisch und haben sie doch mit einem müden Lächeln beäugt. „Deutsche sind Deutsche“, haben wir gesagt und uns selbst kein Wort geglaubt. Die Jahrtausendwende habe ich hier gefeiert. Mit meinem Volk, das Raketen in den Himmel schoss wie nie zuvor. „Brot für die Welt“, haben sie geschrien und im Lärm der Böller kein Wort verstanden. Sie hatten Angst vor dem Zusammenbruch der Computer und waren enttäuscht, als danach doch alles funktionierte.

Ich liebe diesen Ort, liebe das chlorverseuchte Wasser, die braungetretene Liegewiese und die schimmelig-grünen Duschen. So viel Zeit habe ich diesem Ort gegeben und er mir genommen. Ich habe Kinder gesehen, die erwachsen sind und Erwachsene, die wieder zu Kindern wurden. Freunde habe ich keine. Die Menschen, die ich kenne, sind meine Untertanen. Sie würden mich vermissen, wäre ich nicht hier, mich aber nicht erkennen, begegneten sie mir an einem anderen Ort. Ich bin das Puzzleteil, das eine Lücke lässt, wenn es fehlt, jedoch in kein anderes Puzzle passt.

Ich weiß, es wird bald vorbei sein. Ich kann es spüren, so wie ich meinen Körper schon seit Jahrzehnten nicht mehr spüre. Den Sprung bedaure ich nicht, denn das Springen hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Keiner konnte die doppelte Schraube vom Zehn Meter-Brett wie ich. Und nur wenige haben sich getraut, es mir nachzumachen. Ich höre den Beifall noch heute. Sie haben geschrien und gejohlt, mit dem Finger auf mich gezeigt und sich ehrfürchtig meinen Namen zugeflüstert. Sie wussten, dass nur der König ihnen den Tag vergolden konnte. Den Sprung beherrschte ich im Schlaf und spürte schon die wohlige Kälte, die das Wasser beim ersten Eintauchen verströmt. Ob mehr Wind ging, als ich vermutet hatte? Ich weiß es nicht. Und ich habe irgendwann aufgehört, darüber nachzudenken. Sie haben den Turm danach verkleinert, obwohl ich mich dafür stark gemacht hatte, es nicht zu tun. Sie sprachen mir ihr Mitgefühl aus und eine Entschädigung zu, die ich nicht gewollt hatte. Besorgte Mütter zeigen noch heute mit dem Finger auf mich, wenn sie ihre Kinder zur Vorsicht ermahnen wollen.

Mein Rollstuhl ist silbern und funkelt in der tiefstehenden Abendsonne. Er umgibt mich mit der Aura des Göttlichen und fesselt mich an meine unvollständige Existenz. Mit dem schwarzen Joystick in meinem Mund kann ich ihn bewegen und fühle mich doch unbeweglich. Die Menschen, die mir helfen, hasse ich. Ich habe Angst zu sterben. Aber noch mehr Angst habe ich, langsam zugrunde zu gehen. Ich will nicht an Maschinen angeschlossen werden, die mein kümmerliches Dasein künstlich verlängern und meinen, mir damit einen Gefallen zu tun.

Langsam setze ich mich in Bewegung. Ich kann die Kante des Beckens schon sehen. Kleine Kinder kreischen und die laute Musik aus dem Lautsprecher spielt mein Abschiedslied. Der Bademeister auf seinem Turm grüßt mich kurz und ich nicke ihm zu. Die Zeit wird reichen, soviel weiß ich. Denn er ist zu langsam und ich zu schnell.

Als sich mein Rollstuhl über die Kante hebt, spüre ich für einen kurzen Moment die Schwerelosigkeit, die ich so lange vermisst habe. Im Wasser lasse ich den Joystick los und beginne mich gedanklich zu drehen. Die Schraube kann ich noch immer. Verschwommen sehe ich meine Welt von unten und kann meine Untertanen sehen, die bestürzt auf mich zeigen und etwas zu rufen scheinen. Ich verachte sie und weiß:

Sie werden ihren König nie vergessen.